Über psychische Probleme spricht niemand gerne. Doch wie geht man damit um, wenn das eigene Problem zu offensichtlich ist, um es als Tabu zu behandeln?
AN EINEM MONTAG IM AUGUST 2020, 00.00 UHR
Ich stehe in einem Gemeinschaftsbad auf einem Campingplatz. Mein Gesicht fühlt sich schmutzig an, eine dicke Schicht Make-up klebt auf meiner Haut. Alle anderen schlafen schon, niemand ist da. Nur ich und ein Spiegel. Und Licht. Es leuchtet grell von oben herab. Ich schaue mich an und erkenne jede einzelne Unreinheit, jede einzelne Pore in meinem Gesicht. Zu Hause hätte ich längst begonnen, aber hier ist der Widerstand grösser –vielleicht kommt ja doch noch jemand herein. Doch der Widerstand ist nicht gross genug. Ich beginne. Wie immer.
Heute mache ich nur ganz wenig, nur das Nötigste, denke ich mir. Aber ich mache weiter. Wie immer. Ich quetsche neue Hautstellen, kratze alte Wunden auf. Dass mein Gesicht blutet, registriere ich nur beiläufig. Es ist wie ein Hintergrundgeräusch, wie das leise Ticken einer Uhr. Aber diese Uhr stoppt mich nicht. Irgendwann bin ich müde. Mein Blick wandert zum Handy und dann zum Spiegel. Es ist jetzt 1.30 Uhr und mein Gesicht sieht schlimmer aus als je zuvor. Und ich weiss, dass ich mich hier in den Ferien nicht verstecken kann. Es ist der Moment, in dem ich merke, dass ich wirklich Hilfe brauche.
AN JEDEM TAG, OFT VIELE STUNDEN
Schätzungsweise 1.4 bis 5.4 Prozent der Menschen sind einmal in ihrem Leben von Skin Picking Disorder betroffen. Skin Picking, Acné Excoriée oder Dermatillomanie – die Namen für diese Impulskontrollstörung sind vielfältig, wie auch die Betroffenen. Kinder, Jugendliche, ältere Menschen, hauptsächlich aber junge Frauen. Ich bin eine von ihnen. Skin Picker zupfen und quetschen zwanghaft an ihrer Haut und versuchen erfolglos, das Verhalten zu verringern oder ganz zu stoppen. So die Definition im DSM-5, einem Klassifizierungssystem für psychische Erkrankungen aus den USA. Im europäischen Raum wird Skin Picking voraussichtlich erst 2022 als offizielle Diagnose aufgenommen.
Betroffene verbringen viel Zeit mit dem Zupfen und Quetschen der Haut – täglich mehrere Stunden. Das Verhalten wird dabei oft begleitet von anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen. Ursachen sind aber noch weitgehend ungeklärt. Dementsprechend schlecht erforscht und unbekannt ist die Störung, oft verharmlost und nicht ernstgenommen. Zwischen gelegentlichem Pickel- Ausdrücken und Skin Picking gibt es aber grosse Unterschiede. So haben Betroffene einen grossen Leidensdruck:Sie werden in ihrem Alltag und sozialen Leben eingeschränkt, da das Verhalten stark schambehaftet ist. Oft hat das Bearbeiten der Haut auch eine kompensatorische Funktion und tritt vermehrt bei Stress auf. Die meisten Betroffenen versuchen mit allen Mitteln, das Verhalten zu verstecken. Ein Punkt, der auch bei mir zutrifft.
AN EINEM TAG IM JAHR 2009, IRGENDWANN AM ABEND
Das Versteckspiel beginnt in meinem Badezimmer. Niemand ist da. Nur ich und ein Spiegel. Und Licht. Es leuchtet grell von oben herab. Auf meiner Nase sitzen ein paar grosse Poren. Sie nerven mich. Fünf Minuten später sind sie offen und ich erleichtert. Irgendwie fühle ich mich reiner als vorher. Was mit elf Jahren harmlos beginnt, gerät bald ausser Kontrolle. Ich tue es wieder. Immer wieder. Wieso, weiss ich nicht genau. Es folgen Jahre des Leugnens und Versteckens. Es ist ja nicht so schlimm, jeder drückt mal einen Pickel aus, denke ich häufig. Doch mein Kratzzwang wird lauter und ungestümer. Ich beginne, mich exzessiv zu schminken – niemand soll meine Haut sehen.
Mit 15 Jahren wage ich die ersten Versuche, mit dem Kratzen aufzuhören. Manchmal gelingt es. Doch spätestens nach ein paar Tagen klopft der Kratzzwang besonders laut und penetrant an meine Badezimmertür. Wie ein ungebetener Gast, der mich in den unpassendsten Momenten besucht. Er nimmt stur und trotzig an meinem Leben teil und engt mich ein. Besonders dann, wenn ich gestresst bin und mit meinen Emotionen nicht klarkomme. Dann kratze ich viel, mein Gesicht leuchtet rot und ist mit vielen Wunden übers.ht. Ich habe dann Entzündungen im Gesicht, die ich auch im Alltag spüre – wenn ich lache, wenn ich meine Stirn runzle oder mir ins Gesicht fasse.
In diesen Phasen bin ich mir ständig bewusst darüber, wie meine Haut gerade aussieht. Welche Seite meines Gesichts die schlimmere ist. Aus welcher Richtung das Licht kommt. Wenn ich in einer Bar einen Sitzplatz auswähle, entscheide ich mich ganz sicher nicht für den Platz unter der grellen Lampe. Doch leider muss ich bald merken, dass ich nicht unentdeckt bleibe.
AN EINEM SAMSTAG IM JAHR 2016, 15.55 Uhr
Mit 16 Jahren arbeite ich als Floristin in einem Blumengeschäft. Ich stehe an der Kasse. Eine Lampe leuchtet grell von oben herab, direkt in mein Gesicht. Ständig habe ich das Gefühl, dass mich die Blicke der Kund*innen förmlich durchbohren. Kurz vor Ladenschluss kommt eine Frau mit ihrem Kind herein. Vielleicht fällt meine Haut gar nicht auf, rede ich mir ein. Was für ein Trugschluss. Die Frau und das Kind stehen jetzt an der Kasse. Und dann kommt er, der Schlag ins Gesicht: «Was hast du da Komisches auf der Haut?», das Kind schaut mich angewidert an. Die Frau mustert mich ein wenig beschämt und trotzdem neugierig. Auch meine Vorgesetzte lauscht. «Mückenstiche», sage ich. Es fällt mir einfach nichts Besseres ein, als meine Haut mit ein paar Mückenstichen zu erklären. Es ist der Moment, in dem ich merke, dass ich aufgeflogen bin.
Und es folgen weitere. Im gleichen Sommer verschreibt mir mein Frauenarzt eine Pille gegen starke Akne, obwohl ich keine habe. Mit 18 Jahren erhalte ich an Weihnachten ein Geschenk, das mir unglaublich peinlich ist: ein Hautpflege-Set für «für stark unreine Haut». Unzählige Male empfehlen mir Menschen ungefragt Öle, Cremes und Gesichtsmasken. Oder nennen mich «Pickelgesicht». Sie haben keine Ahnung, was eigentlich mein Problem ist. Einmal wage ich es und versuche, mein Problem zu erklären. Ich scheitere. «Hör doch einfach auf zu kratzen!», heisst es.
Solche Kommentare haben verheerende Folgen. Laut einer Studie suchen sich Betroffene oft keine Hilfe und denken, ihre Störung sei nicht behandelbar. Zu gross sind die Schamgefühle und das Stigma, das mit ihrem Verhalten verbunden wird. Auch ich schäme mich zutiefst und sage immer mehr Verabredungen ab, um mich diesen Kommentaren nicht mehr auszusetzen. Erst mit 19 Jahren treffe ich im Internet per Zufall auf den Namen Skin Picking und fühle mich so verstanden wie nie zuvor. Den Entschluss, in eine Therapie zu gehen, treffe ich im Sommer 2020. Mit 22. Der Entschluss fällt nach über zehn Jahren Kratzen, Leugnen und Verstecken und einer Menge Schuld, Scham und Unverständnis.
AN EINEM SAMSTAG IM SEPTEMBER 2020, 10.30 UHR
Ich sitze in einem unerwartet gemütlichen Raum – bequeme Sessel, eine kleine Theke mit Kaffee und bunte Kissen. Hell, aber nicht unangenehm grell. So hätte ich mir ein Therapiezimmer nicht vorgestellt. Ich beginne, alles zu erzählen. Und die Reaktion meiner Therapeutin: kein Verharmlosen, keine Pflegetipps und auch kein Unverständnis. Ich fühle mich leichter als vorher. Es ist, als ob durch das Aussprechen alle Emotionen ein wenig an Gewicht verlieren würden.
Meine Therapie bringt den Stein ins Rollen. Ich spreche zum ersten Mal mit vielen Menschen offen darüber – in meinem persönlichen Umfeld und auch mit anderen Betroffenen. Es entstehen unglaublich schöne Gespräche über Probleme, die viel zu lange verschwiegen wurden. «Die Erkrankung darf nicht tabuisiert werden. Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist wichtig, denn nur so können Betroffene selbstbewusster den Schritt nach aussen wagen», schreibt mir eine andere Betroffene. Ja, Schweigen ist wirklich keine Option mehr – zu lange habe ich etwas so Offensichtliches unter einer dicken Schicht Make-up versteckt. Mich an eine hauchdünne Hoffnung geklammert, unentdeckt zu bleiben. Selbst dann, als ich längst aufgeflogen war.
Text: anonym
Falls du selber von Skin Picking betroffen bist oder jemand aus deinem Umfeld, kannst du dir hier Hilfe holen: 147.ch