An einem kalten Sonntagnachmittag sassen Kim, eine gute Freundin von mir, Kaspar, ein seltener Gast, und ich draussen auf der Veranda und unterhielten uns über Gott und die Welt. Auf einmal erwähnte Kaspar: «Manchmal gehen wir Containern». Ich schaute ihn an und fragte: «Was, ihr geht Containern?» Mein Gesichtsausdruck sprach wohl Bände, als ich das fragte. Ich muss zugeben, dass der Gedanke daran gemischte Gefühle in mir auslöste. Wir haben ziemlich lange über dieses Thema gesprochen. Auch Tage später machte ich mir noch Gedanken über dieses aussergewöhnliche Hobby, und habe beschlossen, mehr darüber herauszufinden.
Vorurteile und Verschwendung
Wer sich noch nie mit Containern auseinandergesetzt hat, sieht es wahrscheinlich als illegale Handlung von Bedürftigen. Mit diesem Vorurteil wird aber nur an der Oberfläche gekratzt, denn es gibt noch einen ganz anderen Grund dafür, sich auf einen Tauchgang in Container zu begeben – aus Trotz. Schnell wurde mir klar, dass zwar manche aus Not handeln, viele aber auch aus Protest gegen die Lebensmittelverschwendung. Mülltauchen hat sich in den letzten Jahren als regelrechte Protestbewegung gegen die Mitverantwortlichen der Lebensmittelverschwendung etabliert, und dies aus gutem Grund. Rund 10 Prozent der in der Schweiz verschwendeten Lebensmittel im Jahr 2019 gehen auf das Konto der Gross- und Detailhändler. Was sich nach wenig anhören mag, sind 297‘000 Tonnen Nahrungsmittel. Diese Zahl löst in vielen Köpfen Empörung aus. Deshalb haben einige Leute begonnen, die weggeworfenen Lebensmittel aus den offenstehenden Containern zu retten. Mittlerweile haben sich in fast jeder Schweizer Stadt Communities entwickelt, die Tipps und Tricks an «Neulinge» weitergeben.
Die Schweiz hat noch kein Gesetz. Leider ist das keine langfristige Lösung für das Problem. Momentan wird Containern an vielen Orten noch still toleriert. Würden die nächtlichen Beutezüge rapide zunehmen, müssten die Lebensmittelhändler aber eingreifen. Schliesslich verlieren sie mit jedem, der sich von Lebensmitteln aus der Tonne ernährt, einen zahlenden Kunden oder Kundin. Nichtsdestotrotz erregt Containern immer mehr Aufmerksamkeit. Die Lösung, die auch von vielen Aktivisten und Aktivistinnen gefordert wird, ist ein Gesetz, wie es in Frankreich bereits existiert. Seit 2016 dürfen dort grössere Supermärkte, ihre noch geniessbaren Lebensmittel nicht mehr wegwerfen. Unverkaufte Ware muss entweder gespendet, als Tiernahrung genutzt oder als Kompost verwendet werden. Supermärkte sollen zudem Vereinbarungen mit karitativen Organisationen zur Abnahme von unverkauften Lebensmitteln abschliessen. Viele Grossverteiler in der Schweiz setzen sich aber aus Eigeninitiative, und bestimmt auch wegen des gesellschaftlichen Drucks, immer mehr gegen Foodwaste ein.
Ich habe bei Migros und Coop nachgefragt, wie sie zum Containern stehen. Die beiden Grossverteiler waren sich einig. «Containern ist nicht im Sinne der Migros» und «Containern ist bei Coop kein Thema» erhielt ich zusammen mit ihrem Konzept gegen Food Waste zurück.
Ein Gespräch mit einem Aktivisten
Ich wollte unbedingt nochmals mit Kaspar über dieses Thema sprechen. Also habe ich mich mit ihm verabredet und in seiner WG getroffen. Dort wurde ich von ihm und seinen Mitbewohnerinnen herzlich empfangen.
Ich habe ihn nach seiner Motivation gefragt und wie er überhaupt zum Containern gekommen ist. «In erster Linie mache ich es, um an kostenlosen Lebensmittel zu gelangen, natürlich aber auch aus ethischen Gründen. Die Verschwendung nervt mich sehr. Ausserdem ist das Containern in der linken Szene ziemlich populär. Jemand aus der Gruppe hat eines Tages den Vorschlag gebracht, und alle anderen meinten dann, wieso eigentlich nicht?»
Kaspar selbst wurde noch nie beim Containern erwischt, geschweige denn darauf angesprochen. Er habe aber auch immer darauf geachtet, dass ihn niemand dabei sieht. Dass er sehr viele Lebensmittel findet, hat mich nicht verwundert. Dass manchmal sogar Tabak, Wein und Bier im Abfall landen, hat mich doch ein wenig überrascht. Schliesslich haben solche Produkte eine sehr lange Haltbarkeit. Viele der weggeworfenen Esswaren seien noch gar nicht abgelaufen. «Das Beste, dass ich je gefunden habe, war eine Schokoladentorte», erzählt eine Freundin, die mit uns am Tisch sass mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ja klar, dachte ich mir, ich war auch schon an einem Samstag kurz vor 17 Uhr einkaufen, als alle Kuchen und Torten bereits reduziert waren. Dass nicht alle noch verkauft werden könnten, leuchtet mir ein.
Am bequemsten sei das Mülltauchen natürlich bei jenen Lebensmittelhändlern, die ihre Container offen draussen stehen liessen, führt Kasper weiter aus. Er sei tatsächlich schon auf Lebensmittel gestossen, die zum Mitnehmen neben den Containern bereitstanden. Ausserdem seien Freunde und Freundinnen von Kaspar an Weihnachten schon auf Geschenke gestossen, die von den Mitarbeitenden mit den Worten «Wir wünschen auch euch schöne Weihnachten», bereitgelegt worden seien. Daraus lässt sich schliessen, dass die Grossverteiler tolerieren, dass bei ihnen gecontainert wird. So einfach gestaltet sich die nächtliche Aktion natürlich nicht immer. «Oft klettern wir in die Lastwagen, die hinter den Läden stehen. Die Container werden nach Ladenschluss direkt in die Lastwagen gestellt. Diese bleiben die ganze Nacht da und stehen eigentlich immer offen.» Optimal wäre es, ein Auto zur Verfügung zu haben, damit in relativ kurzer Zeit mehrere Läden abgeklappert werden können.
Ist Containern in der Schweiz legal?
Beim Mülltauchen stellt sich oft die Frage: «Was passiert, wenn ich erwischt werde?» In der Schweiz ist Containern nicht per se illegal, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung aber schon. Wer einen Zaun oder eine Absperrung überwindet, kann wegen Hausfriedensbruchs angezeigt werden. Dass Container weder beschädigt noch Schlösser geknackt werden dürfen, versteht sich von selbst. Wenn ein Container aber frei zugänglich ist, steht dem Wühlen rein rechtlich nichts im Weg. In Kanada wurde Containern sogar offiziell legalisiert, weshalb nun auch am helllichten Tag nach Müll getaucht wird.
Freunde und Freundinnen von Kaspar wurden schon erwischt, durften aber immer mit einer Verwarnung abziehen. Kaspar meint, dass er nie nervös ist oder sich schlecht dabei fühlt, da es in seinen Augen keine Straftat ist. Er ist sich sicher, dass darüber gesprochen werden könnte, falls er mal erwischt werden sollte.
Der Selbstversuch
Ich konnte nach meiner Recherche nicht widerstehen, selbst einmal in einen Container zu steigen. Den ersten Versuch startete ich in Basel, mit meiner Freundin Annick. Voller Tatendrang und mit Stirnlampen und Jutebeutel bepackt, machten wir uns auf den Weg. Nur um kurze Zeit später festzustellen, dass Containern mitten in der Stadt nahezu unmöglich ist. Die Geschäfte deponieren ihren Müll nämlich in den Innenhöfen. Also brachen wir unsere Aktion ohne Erfolg wieder ab. So einfach liess ich mich nicht unterkriegen und bat Kaspar um Hilfe. Drei Wochen später machten sich Kaspar, Andrea, Lea und ich auf den Weg zur Bushaltestelle. Unser erstes Ziel war eine grosse Migros-Filiale in St. Fiden. Dort angekommen, lief ich den beiden Jungs hinterher zum LKW, der hinter dem Laden angedockt war. Lea hatte beschlossen, Schmiere zu stehen, und setzte sich an der wenig befahrenen Strasse auf eine Mauer. Mit grossen Schritten gingen wir auf den LKW zu. Mühsam kletterten wir zwischen etlichen Blachen auf den schmalen Gang hoch, der zwischen dem Tor der Migros und dem Fahrzeug lag. Andrea drückte einen Knopf am LKW, und das Rollo setzte sich unter Getöse in Bewegung. Ich kam mir vor wie in einem Science-Fiction-Film. Ich erholte mich schnell vom Schreck, und half den beiden das Rollo nach oben zu drücken. Wir blickten auf die zwei Kisten mit der Aufschrift: «Wäscherei». Darin lagen diverse Migros-Kleidungsstücke. Andrea sagte sofort, «hier hat’s nichts, gehen wir». Etwas enttäuscht machten wir uns auf den Weg zum nächsten Spot – dem Denner.
Wir spazierten zum Laden, der mitten in einem Wohnviertel lag, dahinter befanden sich zwei Container. Andrea öffnete den ersten Container, der war voller Verpackungsmüll. Ich stieg die kleine Treppe zur Warenannahme hoch, wo eine kleine Grüntonne stand. Ich öffnete sie und rief «Ich habe etwas gefunden!». Sie war ungefähr zu einem Drittel mit FuseTea-Flaschen und Schokoriegel gefüllt. Ich hängte mich über die Tonne. Wer schon eine solche Tonne ans Open Air mitgenommen hat, weiss, dass es gar nicht so einfach ist, die Dinge, die ganz unten liegen, herauszubekommen. Ich baumelte über der Tonne und die Jungs packten geduldig alle Sachen ein, die ich ihnen herausreichte. Zufrieden mit unserer Ausbeute machten wir uns auf den Heimweg und diskutierten darüber, was sie schon alles gefunden hatten.
Durch das Containern wurde mir das Problem von Foodwaste im Detailhandel erst richtig bewusst. Ich hoffe, dass Containern und auch dieser Text andere zum Nachdenken anregen. Denn ich finde es Wichtig, sich dem Luxus des Einkaufens und der Verschwendung, die damit einhergeht, bewusst zu sein. Versuchs doch auch mal 😉