Ich, Damian Haralamb, möchte euch von meinem persönlichen Wandel erzählen. Von meiner Reise vom männlichen Stereotypen über eine homosexuell angehauchte Episode bis hin zur Selbstakzeptanz.
Eine Faust brettert auf den alten Stammtisch, die Gläser klirren und unser Lachen erfüllt die Luft. Vor jedem vor uns steht ein Teller mit einem saftigen Stück Fleisch, dahinter jeweils ein halber Liter Bier. Ein weiterer frauenfeindlicher Spruch fällt und erneut brechen wir in Gelächter aus. Die weissen Blüten auf unseren Edelweisshemden leuchten im schummrigen Licht der herunterhängenden Schirmlampe.
Nach einem Kafi Lutz zieht es uns weiter durch die Nacht. Grölend machen wir die Strassen unsicher, lassen Baustellenlichter mitgehen und werfen sich uns in den Weg stellende Schilder um. Mit beiden Beinen springe ich gegen einen Laternenpfahl – die Lampe erlischt und ich stehe unter tosendem Beifall meiner drei Freunde wieder auf.
Besoffen und brüllend sitzen wir am Tisch. Zwei meiner Freunde halten sich gegenseitig ihr mit Schnupftabak beladenes Taschenmesser hin, um sich ihre Freundschaft zu beweisen. Ich und ein anderer bevorzugen den Deckel einer fast leeren Amaretto-Flasche: Wir schwören uns, dass wir auf immer Brüder sein werden.
Vom Vorbild zum Feindbild
Dieser Stammtisch-Abend ist 2018 wirklich so geschehen. Mit meinem Schnupftabak-Bruder Björn habe ich noch immer Kontakt, mit den anderen beiden habe ich mich auseinandergelebt. Und das, obwohl einer von ihnen – er heisst Michael – 2018 noch mein Vorbild war.
Bald sind vier Jahre seit diesem Abend vergangen. Einen Teil von Michael habe ich immer noch in mir. Viele seiner Facetten habe ich aber abgelegt oder durch andere Ideale ersetzt. Nun möchte ich euch mitnehmen auf meine Reise – auf den Wandel meiner Männlichkeit.
Was wäre ich für ein Mann..?
Es ist der 17. März 2018. Vollbeladen fahren wir mit Michaels altem Volvo durch den Wald, unser Ziel ist der seit dem 19. Jahrhundert stillgelegte Steinbruch. Im Kofferraum haben wir eine rund 150 Kilogramm schwere Stahlseilrolle. Damit wollen wir eine Seilbahn bauen, denn heute ist ein besonderer Tag. Die jüngeren Teilnehmer unserer Pfadi treten zu den Älteren über. Als Mutprobe müssen sie den Abgrund des alten Steinbruchs überqueren.
Noch etwas müde, doch voller Tatendrang, beginnen wir unsere Arbeit. Dem Winter zu trotz ohne Handschuhe, ohne Mütze und ohne Halstuch. Was wären wir für Männer, wenn wir so etwas bräuchten?
So ist auch mein restliches Leben. Was wäre ich für ein Mann wenn ich eine Pause bräuchte? Ohne langsamer zu werden einen Berg zu besteigen ist männlich. Richtige Männer brauchen nicht viel Schlaf. So lange es etwas zu erledigen gibt, arbeite ich daran.
Endlich wie Michael
Verrichteter Dinge stosse ich zum Rest unserer Gruppe, Michael will noch etwas erledigen. Die Seilbahn steht, die Kinder kommen in einer halben Stunde. Fürs Mittagessen habe ich aber keine Zeit mehr – nicht so schlimm, brauche ich nicht.
Mit selbstbewussten, stämmigen Schritten gehe ich auf meine Freunde zu. Als sie mich erblicken stösst einer unter ihnen aus:
«Du wirst immer mehr wie Michael!»
Im ersten Moment freut mich diese Bemerkung. Endlich merken es auch andere: Ich werde so wie mein Vorbild. Endlich werde ich ein richtiger Mann, so wie Michael. Doch der Kommentar lässt mich nicht los. Am selben Abend im Bett, Tage später, selbst heute noch hallt dieser Ausruf in meinem Kopf wieder: «Du wirst immer mehr wie Michael!»
Wer bin ich?
Die Tage vergehen und der zuerst so erfreuliche Ausruf lässt mich nicht los. Endlich bin ich wie Michael – ein erleichternder Gedanke. Aber wer bin dann ich? Habe ich alles was mich als Mensch ausmacht abgelegt, nur um so zu sein wie mein Vorbild? Hatte ich denn keine guten Eigenschaften? Ist Michael wirklich ein gutes Vorbild?
Ich will ich sein. Aber wer bin ich?
Zweifel beginnen an mir zu nagen. Alles was mir bisher klar war, wird unsicher. Alles was ich bis vor kurzem noch sein wollte, erscheint mir nicht mehr wünschenswert.
Nichtsdestotrotz treffe ich mich weiter mit meinen drei Stammtisch-Freunden. Als ob nichts wäre feiern wir weiter, ziehen singend und zerstörerisch durch die Nächte und fühlen uns männlich. Alleine Zuhause zernagen mich jedoch die Zweifel.
Wer ist mein Freund?
Frühling und Sommer vergehen und äusserlich hat sich nur wenig verändert. Mit dem Herbst fasse ich aber einen Entschluss: Ich will mir die Haare grün färben. Gedacht, getan – und mit Hilfe einer Klassenkameradin und meiner Mutter erstrahlen meine sonst schwarzen Haare im September in einem leuchtenden Grün.
Für meine Stammtisch-Freunde kein Grund zum Feiern. Wie mir Björn später verraten wird, haben sich die anderen beiden bereits Gedanken darüber gemacht, mich aus unseren Stammtisch-Touren auszuschliessen. Unternommen haben sie schlussendlich nichts. Unsere Freundschaft hat trotzdem zu bröckeln begonnen.
«Sind das noch meine Freunde?»
Und ähnliche Gedanken schreibe ich in mein Gedanken-Buch. Es ist kein Tagebuch, dafür schreibe ich zu selten. Es hilft mir, meinen Kopf zu lüften und meine Gedanken zu dokumentieren.
Seitenweise Zweifel und Fragen schreibe ich in mein kleines schwarzes Büchlein. Antworten darauf habe ich keine. Unsicherheit dominiert zu dieser Zeit meinen Kopf.
Das Jahr vergeht und wie ich im Nachhinein weiss, feiern wir zum letzten Mal als Stammtisch- Freunde gemeinsam Neujahr. Ich habe mich zum Jahresende hin zunehmend von der Gruppe distanziert. 2019 würde niemand mehr sagen: «Du wirst immer mehr wie Michael!»
Unschöne Einsicht
Und wieder vergeht ein halbes Jahr. Ich bestehe meine Abschlussprüfung, bereise Japan und beginne nach den Sommerferien mit der Berufsmaturität. Mehr und mehr distanziere ich mich von meinen Stammtisch-Freunden, und von meinem früheren ich.
Langsam werde ich mir bewusst, dass diese ach so tolle Männlichkeit unschön ist. Sie hat nichts ästhetisches, ist rein zerstörerisch, wütend. Ich beginne mich für mein bisheriges Auftreten zu schämen. Zu oft habe ich betrunken Freunde schlechtgeredet oder geschlagen. Bei all meiner Männlichkeit habe ich das herzliche verloren.
Neue Männlichkeit
Ich will nicht mehr zerstörerisch, beleidigend und herzlos sein. Ich will meine Emotionen zeigen können, meinen Freunden sagen, dass ich sie mag, kuscheln, herzlich sein. Männlichkeit hat keinen Platz mehr in meinem Leben.
So stark wie diese Gedanken sind, so stark ist auch meine Veränderung. Mein Verhalten, meine Gesten und meine Haltung werden femininer, mit einem Klassenkameraden lackiere ich mir die Nägel, aus einer Laune heraus küsse ich meine männlichen Freunde.
«Bist du schwul?»
Diese Frage habe ich nicht nur gehört, sondern mir auch wiederholt selber gestellt. Wenn ich nicht mehr männlich sein will, bin ich dann schwul? Gehöre ich mit meiner femininen Art noch zu den Männern?
An diesem Punkt habe ich zum Glück schon viel über mich gelernt. Die Zweifel verfliegen schnell, denn ich weiss: Ich liebe Frauen.
Was wie eine banale Aussage wirkt, ist eine wichtige Stütze für mich. Denn so sehr ich auch meine Männlichkeit und Identität anzweifle, meine Sexualität ist klar.
Hier und Jetzt
Es ist wieder einmal Samstagabend, der 20. November 2021. Zu fünft sitzen wir bei einem Freund am Küchentisch, spielen Uno, trinken Bier und tragen Schwimm- oder Skibrillen. Björn und ich sind die einzigen überlebenden des alten Stammtisches. Immer noch geht es laut zu und her, jedoch herzlicher, ehrlicher.
Nach einer lauten Runde Uno und einigen brüderlichen Beleidigungen erzählt Björn von seiner Trennung. Obschon sie etwas länger her ist, kommt er immer noch nicht darüber hinweg. Wir anderen hören ihm zu, geben ihm Ratschläge, bieten ihm unsere Unterstützung an.
Etwas später sitzen wir kuschelnd auf dem Sofa. Gemütlich in Decken eingepackt beratschlagen wir, was wir an diesem Abend noch tun könnten. Die beste Idee; wir gehen raus und raufen uns.
Kurz darauf stehen wir keuchend auf einer dunklen Wiese, sprinten aufeinander zu, werfen uns zu Boden, versuchen uns zu befreien und schreien einander an.
Der Abend endet wieder auf dem Sofa, wieder kuschelnd. Feierlich erklärt Björn: «Jungs, ich habe euch einfach gern!»
Gemeinsame Veränderung
Nicht nur ich habe mich über die Jahre verändert, sondern auch mein Umfeld. Einige Freunde habe ich ausgetauscht. Andere, wie etwa Björn, haben sich zusammen mit mir verändert – ob bewusst oder unbewusst weiss ich nicht.
Was ich jedoch weiss ist, dass es eine schöne Veränderung ist. Unsere gemeinsamen Nächte sind immer noch heiter, manchmal brutal, aber zusätzlich auch herzlich, emotional. Wir sind offener geworden, teilen unsere innersten Gedanken, sprechen über unsere Ängste und geben Fehler zu. Es ist schön, solche Freunde zu haben. Schön, so sein zu können.
Männlich oder nicht?
Aus dem hin und her zwischen männlich und feminin habe ich gelernt, dass keine Seite perfekt ist. Keine der beiden Seiten hat eine Antwort auf alle Fragen bereit und so brauche ich beide Seiten, um mich wohl fühlen zu können.
Jede Seite hat seine Vorzüge. So denke ich etwa vor einem Vortrag noch immer an Michael, an seine selbstsichere, stämmige und überzeugte Art. Geht es jedoch um Emotionen, um Empathie, so wende ich mich an meine feminine Seite.
Ich bin dankbar, konnte ich diesen Wandel durchleben und meine eigenen Erfahrungen machen. Dankbar für meine Freunde und all die Bekanntschaften die ich auf meinem Weg machen durfte. Denn ohne diese Umstände wäre mein Weg anders gewesen, wäre ich vielleicht jetzt nicht da, wo ich bin.
Zukunft der Männlichkeit
Ich hatte das Glück von einem sehr toleranten und reflektieren Freundeskreis umgeben zu sein. Doch was, wenn ein junger Mann das nicht hat? An wem kann er sich heutzutage orientieren? Die Lage sieht nicht gerade günstig aus.
Immer mehr Männer werden sich ihrer schlechten Angewohnheiten bewusst. So schreibt etwa Andrea Maihofer, Professorin für Geschlechterforschung und Leiterin des Zentrums Gender Studies an der Universität Basel, über das ambivalente Schmerz-Aushalten der Schweizer Männer.
«Ein Indianer kennt keine Schmerzen!»
Noch heute, in der modernen Schweiz, orientieren sich viele Männer an diesem Sprichwort, auch wenn sie wissen, dass es eigentlich dumm ist. Schmerzen werden als männlich angesehen und lieber ausgehalten, als dass man sich behandeln lässt. Geht es um die Söhne, so sollen diese es jedoch anders machen. Vorbilder gibt es aber nur wenige.
Bewusster Umbruch
Die Männlichkeit braucht einen Wandel. Und das nicht erst jetzt, sondern seit mehreren Jahrzehnten. Das Thema gewinnt langsam an Popularität, besprochen wird es jedoch seit den 90er Jahren. So ist beispielsweise Raewyn Connels «Männlichkeiten» von 1995 noch heute eines der wichtigsten Werke dieses Forschungsfeldes.
Wie dieser Umbruch geschehen kann, steht jedoch immer noch in den Wolken. Zurzeit wird der Mann in den Medien eher als Dämon, als Patriarchen, den es zu stürzen gilt, als toxisch behandelt. Wir brauchen mehr Zuneigung, Verständnis und Differenzierung.
Nicht jeder Beschützerinstinkt ist gleich toxisch. Männlichkeit ist nicht gleich schlecht. Auch wenn es Facetten des Mannes gibt, welche nicht optimal sind, so ist der Mann als Ganzes kein Dämon.
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass der männlichen Entwicklung mehr Beachtung geschenkt wird. Dass es für künftige Generationen mehr Vorbilder gibt, welche über ihre Emotionen sprechen, ihre Schwächen zeigen, Schmerzen zugeben. Ich wünsche mir eine Evolution der Männlichkeit.
Autor
Damian Haralamb ist Pfadileiter und leidenschaftlicher Denker. Am liebsten beschäftigt sich der 22 Jährige mit sich selbst. Er ist der Überzeugung, dass man andere nur verstehen kann, wenn man zuerst sich selbst kennt.