Ich würde von mir behaupten, dass in meinem Freundeskreis offen über private Themen gesprochen wird. Es fällt mir nicht schwer, über beispielsweise Menstruation oder Verhütung zu sprechen. Vor längerer Zeit wurde ich darauf aufmerksam, dass jedoch kaum über das Thema Schwangerschaftsabbruch gesprochen wird: weder in meinem Umfeld noch in den Medien. In den Medien las ich wenige Male über das Thema und setzte mich damit auseinander. Ich weiss aber von keiner Person in meinem Umfeld, die einen Abbruch durchgeführt hat oder zumindest in der Situation war, darüber nachdenken zu müssen. Ist Abtreibung also ein Tabuthema? Und sollte es keines mehr sein? Muss mehr darüber geredet werden? Meine Recherche beginnt.
Fettnäpfchen
Ich mache mir also mehr Gedanken über das Thema. Beginne meine Internetrecherche. Finde heraus, dass pro Jahr rund 10’000 Frauen in der Schweiz einen Abbruch durchführen. Es ist also nicht unmöglich, dass auch in meinem Umfeld eine oder mehrere Frauen davon betroffen sind. Aber dazu später mehr.
Um mein Wissen zu erweitern, wende ich mich an die Beratungsstelle Adebar in Chur. «Anfrage zum Thema Abtreibung für Studienarbeit» ist der Betreff der ersten Mail. Susanna Siegrist Moser, Sexualpädagogin und Geschäftsleiterin der Beratungsstelle, lädt mich zu einem Interview ein. Auf meine erste Mail antwortet sie mir: «Schwangerschaftskonflikt und Abbruch sind Tabuthemen, denn es handelt sich um einen sehr intimen und persönlichen Lebensbereich. Daher ist es gut das Thema fundiert und wissenschaftlich anzugehen. Dazu bildet die Sprache ein zentraler Teil. Sie benutzen den Begriff ‘Abtreibung’ , wir Fachpersonen sprechen von ‘Abbruch’. Die beiden Begriffe lösen unterschiedliche Assoziationen aus…».
Ich frage mich: «Wie vorsichtig muss ich bei diesem Thema sein, ohne es mit Samthandschuhen anzufassen?»
Ich laufe mit dem Begriff Abtreibung direkt ins Fettnäpfchen. Ich war mir nicht bewusst, dass schon bei der Sprache die Sensibilität des Themas spürbar wird und das macht mich nachdenklich. Ich freue mich auf das Gespräch, bin jedoch auch nervös. Stelle ich die richtigen Fragen oder gehe ich das Thema viel zu offensiv an? Bin ich zu wenig sensibel? Wie vorsichtig muss ich bei einem solchen Thema sein, ohne es mit Samthandschuhen anzufassen?
In der Schweiz ist ein Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt. Somit bleibt die Frau straflos, wenn sie innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft einen Abbruch vollzieht. Dies ist aber nur aufgrund einer Fristenlösung so, die 1993 von der Nationalrätin Barbara Haering Binder als parlamentarische Initiative eingereicht wurde. Zuvor war es Frauen nur in seltenen Fällen erlaubt, legal einen Abbruch durchzuführen. Ein Referendum zur Änderung des Strafgesetzbuches kommt im Jahr 2001 zu Stande. Erst am 2. Juni 2002 wird in einer Volksabstimmung der Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Schwangerschaftsabbruch) mit 72.7% zugestimmt.
Die Legalisierung ist aber auch im westlichen Europa nicht selbstverständlich. So sind Abbrüche beispielsweise im Fürstentum Liechtenstein, einem Nachbarland der Schweiz, immer noch verboten. Viele Frauen kommen deshalb in die Schweiz, auch nach Graubünden, um dort einen Abbruch durchzuführen. Dies bestätigt mir auch Frau Siegrist Moser. Eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes im Fürstentum ist nicht in Sicht. Dies, weil der Fürst des katholischen Staates sein Veto bei jeder Gesetzesänderung einlegen kann. Und das macht er auch.
Vor meiner Anfrage an die Adebar habe ich mir vorgenommen, Frauen zu finden, die bereits einen Abbruch durgeführt haben. Ich bin mir sicher, dass ein Gespräch mit einer betroffenen Frau meinem Verständnis des Themas helfen würde. Dazu frage ich Frau Siegrist Moser im Mail, ob es möglich wäre, einen Aushang in der Beratungsstelle zu machen. Das sei in der Beratungsstelle nicht möglich, antwortet mir Frau Siegrist Moser. Erst nach der deutlichen Absage wird mir bewusst, dass dies nicht der richtige Ansatz ist. Die Frauen, die dort sind, wollen eine professionelle Beratung in einer schwierigen Situation und kein Interview mit einer Studentin.
Informationen
Einige Tage später sitze ich im Büro der Fachstelle für sexuelle Gesundheit und Familienplanung. Ohne Aushang. Frau Siegrist Moser empfängt mich. Ich habe meinen Fragekatalog vor mir und starte die Tonaufnahme.
Während dem Gespräch wird mir klar: Das Thema ist vielschichtiger, als was ich mir das vorgestellt habe. Ich stelle viele Fragen, bekomme noch mehr Informationen. «Es gibt zwei gewichtige Gründe, die dominieren, wenn eine Frau einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung zieht. Zum einen ist dies die Beziehung zum Kindesvater (One-Night-Stand, Trennung oder Scheidung, verbotene Liebe, Vorgesetzter oder Ähnliches). Zum anderen ist dies die Lebenssituation, wie beispielsweise die Wechseljahre oder eine Ausbildung», erklärt mir Frau Siegrist Moser.
In eine Beratung kommen solche Frauen oder Paare, die sich bei ihrer Entscheidung nicht sicher sind. Die meisten werden von einem Frauenarzt oder einer Frauenärztin vermittelt. Die Beratungen sind freiwillig und kosten die Frauen nichts. «Glücklicherweise sind bei uns die Beratungen freiwillig!», sagt Frau Siegrist Moser. In Deutschland sei das anders, dort ist jede Frau dazu verpflichtet, in eine Beratung zu gehen, bevor sie einen Abbruch durchführt. Dies würde nichts bringen, meint die Sexualpädagogin. Die Frauen sollen selbstbestimmt in eine Beratung kommen.
Mich interessiert, wie die Frauen in der Beratung mit dem Thema umgehen. Sind sie gehemmt, darüber zu reden? «In den Beratungen fällt es den Frauen einfach, über den Konflikt und einen allfälligen Abbruch zu sprechen», so Siegrist Moser. Klar, der Rahmen ist auch geschützt und die Frauen müssen keine Verurteilung fürchten. Weiter sagt die Sexualpädagogin: «Wir fragen die Frauen bei den Beratungen immer, mit wem sie über ihren Konflikt reden können. Bei den meisten Frauen sind dies ein bis zwei Bezugspersonen, wie eine Freundin, Schwester oder die Mutter. Es ist wichtig, dass die Frauen mit jemandem sprechen können, der die Entscheidung akzeptiert und nicht verurteilt.»
Frau Siegrist Moser stört sich am Wort Tabu. «Das Wort Tabu ist wahrscheinlich das falsche. Es ist einfach ein sehr intimes und privates Thema. Daran muss man aber auch nichts ändern.» Es soll nicht das Ziel sein, dass man in jedem Supermarkt oder Restaurant darüber spricht. Das Thema sollte einfach als Teil des Lebens angesehen werden. Diese Aussage werde ich noch einige Male hören bei meiner Recherche.
Überwindung
Die Absage des Aushangs hat mich stutzig gemacht. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich mir auch keine Alternative überlegt, wie ich betroffene Frauen finden würde. Das Gespräch mit Frau Siegrist Moser muss ich zuerst einmal verarbeiten. Ich pausiere meine Suche. Vielleicht ist es wirklich so, dass die betroffenen Frauen nur mit ein bis zwei Personen darüber reden. Da sucht eine betroffene Frau kein Gespräch mit einer Studentin, die sich für das Thema interessiert.
Und trotzdem: Nach dem Gespräch in der Beratungsstelle und meinen Recherchen wird mir bewusst: Ich kann mich nicht gleich tief mit diesem Thema beschäftigen, wenn ich nicht mit betroffenen Frauen spreche. Ich spreche mit vielen Bekannten und Freunden über das Thema. Insgeheim hoffe ich, dass sich jemand angesprochen fühlt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Eine letzte Idee habe ich noch: Ich poste eine Story auf Instagram mit dem Aufruf, dass ich einen Text über das Thema schreibe. Und es wird mir bewusst: Es kostet mich viel Überwindung, die Story auf meinem privaten Account zu posten. Doch warum? Ich möchte doch genau das Tabu thematisieren und brauche selbst so viel Überwindung, danach zu fragen.
Miriam
Keine zwei Stunden nach meinem Aufruf auf Instagram meldet sich Miriam* bei mir. Sie habe selbst einen Abbruch hinter sich und würde gerne mit mir über das Thema reden. Ich bin überrascht, freue mich aber umso mehr!
Miriam sagt: «Ich möchte diese Sonderstellung nicht bedienen, indem ich nicht darüber rede.»
Miriam ist 20 Jahre alt und studiert. Ihr Schwangerschaftsabbruch ist ungefähr ein Jahr her und sie war damals in einer festen Beziehung. Der positive Test war ein Schock für sie. «’Das kann nicht sein’, dachte ich mir die ganze Zeit. Realisiert habe ich meine Situation erst in den folgenden Tagen.»
Miriam redet offen mit mir über ihre Situation. Ihr Freund war damals dabei, als sie den Test gemacht hat. Gleich danach hat sie ihre Eltern und ihre Brüder darüber informiert. Sie war auch froh, konnte sie mit ihren engen Freunden über die aktuelle Situation sprechen. «Es ist etwas Einschneidendes und es wäre komisch gewesen, wenn ich ihnen diese Situation verheimlicht hätte. Wir reden auch sonst über private Sachen.»
Eine Beratung vor dem Abbruch nahm Miriam nicht in Anspruch. Es kostete sie viel Energie, die Situation in den Tagen vor dem Abbruch an Anlaufstellen wie Frauenarzt und Spital zu erläutern. «Jedes Mal musste ich aktiv sagen ‘Ich will dich nicht’. Das war schwierig.»
Zum Schluss frage ich sie, wie sie das Thema jetzt als Betroffene wahrnimmt. «Das Thema hat eine Sonderstellung in der Gesellschaft. Es wird so dargestellt, als ob es etwas wahnsinnig Aussergewöhnliches ist. Das macht es auch zum Tabuthema. Ich will diese Sonderstellung nicht bedienen, indem ich nicht darüber rede.» In unserer Diskussion kommen wir zum Schluss, dass die Ethik hinter dem Thema polarisiert. Miriam findet es schwierig, dass es zum Thema mehr Meinungen als Informationen gibt und sehr viele Personen eine klare Meinung dazu haben. Es gebe keinen Mittelweg. Entweder man ist klar dafür oder dagegen.
Annika
Annika* ist 29. Ihr Abbruch ist bereits neun Jahre her. Das merkt man auch, wenn sie über die damalige Situation redet. Ich würde sie als Realistin bezeichnen. «Obwohl ich mich als Herzmensch beschreiben würde, kann ich Situationen auch klar und nüchtern betrachten. Das hat meine damalige Entscheidung einfacher gemacht. Als ich entschieden habe, war es definitiv entschieden. Deshalb konnte ich die Situation auch gut verarbeiten. Bis heute», sagt Annika überzeugt. Es sei ein One-Night-Stand gewesen und sie war mitten in der Ausbildung. Auch hätte sie sich den Mann nicht als Vater ihres Kindes vorstellen können.
Annika sagt: «Die erste Reaktion von anderen Personen kommt schnell und sie ist sehr ehrlich.»
Auch Annika hatte damals nicht das Bedürfnis, eine Beratung aufzusuchen. Dies erklärt sie mit ihrem guten Verhältnis zu ihrer Familie, mit welcher sie gut über ihren Entscheid sprechen konnte. Heute fällt es ihr nicht schwer, über ihre damalige Situation zu reden. Sonst wäre sie nicht mit mir an einen Tisch gesessen, wir kannten uns nämlich bis zu unserem Gespräch nicht. Ihr falle vor allem eines auf: «Wenn ich in einer Situation anspreche, dass ich einen Schwangerschaftsabbruch hinter mir habe, antworten mir immer wieder Frauen, dass sie schon einmal in der gleichen Situation waren.» Aber trotzdem sei sie ein wenig nervös, wenn sie das Thema anspreche. «Die erste Reaktion kommt nämlich schnell und sie ist sehr ehrlich.»
Als grösstes Glück nennt Annika ihr Umfeld. «Niemand in meinem Umfeld hat über mich geurteilt oder mir Ratschläge erteilt. Von meinen Eltern kam eine bedingungslose Unterstützung. Ich habe mich mit meinem Entscheid nie allein gefühlt.» Durch viele Nachfragen von aussen wurde ihr bewusst, wie gut ihre Unterstützung war. Das sehe sie heute nicht mehr als selbstverständlich an. Eine fehlende Unterstützung würde auch den Entscheid selber beeinflussen, ist sie sich sicher.
Was sie wichtig finden würde, was in Verbindung zum Thema Schwangerschaftsabbruch thematisiert werden muss, frage ich Annika. Auch für sie ist es ein Tabuthema. «Es wird sehr, sehr wenig über das Thema berichtet. Es wäre schön, wenn das Thema als ‘in Ordnung’ angeschaut wird. Kein Entscheid wird in so einer Situation leichtsinnig gefällt. In der Gesellschaft steht es niemandem zu, darüber zu werten und Ratschläge zu geben, wenn diese nicht gewünscht werden.» Auch die Informationen über den Prozess eines Abbruches seien damals spärlich gewesen. «Man informiert sich dann auf eigene Faust.» Ich selbst bin mir sicher, dass bei solchen Recherchen auch die falschen Informationen oder klare Meinungsäusserungen gefunden werden. So wie ich sie bei meiner Recherche auch gefunden habe. Denn wie auch Miriam sagt, kommen die Meinungen unmittelbar nach oder sogar vor den neutralen Informationen.
Doch was ist schon neutral? Annika und ich reden lange über den Begriff Neutralität. Erlebnisberichte und klare Meinungen sind für Frauen in dieser Situation schwierig. Doch auch eine rein medizinische Informationsquelle ist bei einer solch emotionalen Entscheidung nicht die richtige Quelle. Denn Begriffe wie «Ausschabung» sind nicht wirklich angenehm, wenn man darüber lesen will oder muss. Zu einem wirklichen Fazit kommen wir nicht.
Kompromisslos
Was mir die Gespräche zeigen? Das Thema ist vielschichtig und persönlich. Und sogar nach einer umfassenden Recherche ist es schwierig, ein Fazit zu ziehen. Bei einem Schwangerschaftskonflikt geht es von persönlichsten Einstellungen, über Bürokratie, die durchlaufen werden muss, bis hin zur Politik, die nicht aussenvor gelassen werden kann. Und auf allen Ebenen spielt die eigene Einstellung eine Rolle. Einen Kompromiss zu finden, ist bei dieser Entscheidung schwierig bis unmöglich. Dies begründet die Sexualpädagogin Siegrist Moser in gewissen Fällen folgendermassen: «Für viele Frauen ist dieser Konflikt die erste richtig grosse Entscheidung in ihrem Leben. Vieles sonst im Leben kann sich irgendwie ergeben oder man ist reingerutscht. Diese Entscheidung ergibt sich nicht einfach, es braucht ein klares Ja oder Nein.»
Einige Fragen, die ich vor meiner Recherche hatte, haben sich geklärt, andere haben sich neu gestellt. Warum sind Schwangerschaftsabbrüche in einem Land wie Liechtenstein immer noch verboten? Nur wenige Kilometer von meinem Wohnort entfernt herrscht eine völlig andere Politik. Ausserdem gab es immer wieder neue Ansätze, die ich hätte verfolgen können. Was ist mit Selbsthilfegruppen für Frauen, die einen Abbruch hinter sich haben? Ich finde praktisch keine. Warum herrscht in Amerika eine so strenge Politik, die in gewissen Staaten einen Abbruch nur bis zur sechsten Woche zulassen? Viele Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie schwanger sind. Warum gibt es Personen, die sich so stark gegen einen legalen Schwangerschaftsabbruch engagieren, ohne selbst davon betroffen zu sein?
Bei all den Meinungen, die verschiedenste Personen zum Thema haben, ist es schwierig, eine eigene Meinung zu bilden. Und noch schwieriger kann es für betroffene Frauen sein, sich entscheiden zu müssen. Doch die Sexualpädagogin Siegrist Moser sagt dazu: «Die einzig richtige Entscheidung ist diese, die man selbst trifft.» Sowohl Siegrist Moser wie auch Miriam und Annika sind sich einig: Ein Schwangerschaftsabbruch soll als Teil des Lebens angeschaut werden. Als Teil, der passieren kann, den es gibt und immer geben wird.
Text und Illustrationen von Anna Nüesch